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Mass Effect (Rollenspiel) – Mass Effect

Kann BioWare ohne die Macht von Star Wars im Rücken futuristisch begeistern? Mit Jade Empire haben die Kanadier bewiesen, dass sie auch ohne Lizenz das Flair exotischer Kulturen einfangen können. Mass Effect ist allerdings ein ganz anderes Kaliber. Hier soll ein episches Rollenspiel in einem neuen Universum stattfinden – inklusive filmreifer Präsentation, lebendiger Dialoge und moralischer Konflikte. Jetzt auch auf PC.

© Bioware / Microsoft

Dialoge, Mimik & Gestik

Der Kroganer Wrex in all seiner echsenhaften Pracht: Die Mimik gehört zum Besten, was es derzeit in der Videospielwelt zu sehen gibt. (360)

Hört sich das jetzt nach einem Verriss an? Abwarten. Denn auch in diesen ersten ernüchternden Stunden blitzen die Stärken auf, die wiederum auf erzählerischer Ebene für beste Unterhaltung sorgen: Dialoge, Mimik und Gestik. Freut euch auf die lebendigsten Gespräche und realistischsten Gesichter, die es bisher in Videospielen gibt. Ihr könnt jede Stimmung schon an den Augen oder Mundwinkeln ablesen, ihr könnt sehen, wie sich die Brauen eures Gegenübers zusammen ziehen, wenn er wütend wird oder wie ein Lächeln über das Gesicht einer Frau huscht, wenn ihr ein Kompliment aussprecht. All das ist erstklassig, in dieser Form bisher nicht da gewesen.

Hinzu kommen unheimlich gut geschriebene Dialoge, die euch bei geschickten Antworten immer mehr Auswahl geben oder einfach tiefer in der Persönlichkeit des Gesprächspartners wühlen lassen. Ihr habt kein Bock auf 08/15-Quests, sondern Lust auf wirklich relevante Themen und moralische Entscheidungen? Dann ist Mass Effect genau das Richtige, denn es zwingt euch, Stellung zu beziehen: Ein sadistischer Mediziner züchtet Organe in seinen Mitarbeitern – rechtfertigt ihr das im Sinne der Wissenschaft oder zieht ihr ihn zur Rechenschaft? Ein fremdenfeindlicher Mensch wettert über Aliens – macht ihr mit oder empört ihr euch? Ein fanatischer Kultist schottet sich mit seinen Jüngern ab – überzeugt oder erledigt ihr ihn?

Auch eine galaktische Beziehung ist möglich: Ihr habt die Wahl zwischen einer zackigen, aber etwas fanatischen Offizierin und einer liebreizenden, aber etwas seltsam kopulierenden Außerirdischen. (360)

BioWare wirft euch in Dutzende dieser Interessenskonflikte, die schließlich einmal in der Frage von Tod oder Leben eines Crew-Mitgliedes gipfeln: An einer Stelle müsst ihr euch für einen von zwei Offizieren entscheiden. Und ein anderes Mal gipfelt der Konflikt in der Frage des Völkermordes: Die Rasse der kriegerischen Kroganer steht vor dem Aussterben, aber es gibt ein Mittel dagegen. Die Allianz will es vernichten, da sich euer Erzfeind eine Armee von Kroganern heranzüchten will, um das Universum zu unterjochen. Was tut ihr? Und was tut ihr, wenn einer euer besten Mitstreiter ein Kroganer ist, der euch plötzlich die Waffe an den Kopf hält, um die Vernichtung des Mittels zu verhindern? Das sind Momente, die man nicht so schnell vergisst! Das ist genau das, was vielen anderen Rollenspielen fehlt: emotionale Spannung!

Verrat und Intrigen bestimmen den Einstieg. (PC)

Wenn ihr eure beiden kommunikativen Talente Schmeicheln und Einschüchtern schult, habt ihr auch zwei rhetorische Mittel auf Lager. Ihr könnt so z.B. wütende Wachen über ein Lob beschwichtigen oder labile Söldner mit einem deftigen Anschiss auf Kurs bringen. Und Mass Effect zeigt diese Körpersprache: Commander Shepard beugt sich plötzlich vor, hebt die Faust oder packt sein Gegenüber am Kragen – herrlich! Diese Kombination führt dazu, dass man sich fast wie in einem interaktiven Film fühlt, in dem man Regie führt. Und wer richtig böse wird und bedroht, entlockt seinen Opfern nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Informationen – allerdings werden einige Partymitglieder darauf kühl reagieren.

Dieses ausgezeichnete Dialogsystem geht nicht so weit, wie man im Vorfeld denken konnte: Wo ist z.B. die angedeutete und bei uns in der Vorschau noch gelobte Funktion des plumpen Unterbrechens? Man kann lediglich eine Art Vorspulen nutzen, wenn man X drückt – aber das hat als rhetorisches Mittel null Beudeutung.  Man wühlt sich immer tiefer in einem Kreis aus Antworten, es erscheinen bei geduldigem Nachhaken plötzlich neue Möglichkeiten, aber es gibt keine rhetorischen Echtzeitreaktionen mit absoluter Freiheit – so weit ist auch BioWare bei aller gebotenen Klasse noch nicht. Man sieht zwar sofort wie ein Gesprächspartner sich nach einer Antwort fühlt, aber man kann niemandem einfach über den Mund fahren oder ihn gezielt so beleidigen, dass dadurch vielleicht eine Szene oder ein Kampf entstünde. Außerdem wirkt der

Schwer bewaffnet geht es in die nächste Mission: Ihr entscheidet, wer welche Waffe und welche Panzerung nutzt. Freut euch auf ein riesiges Arsenal. (360)
Meinungsumschwung nach einem erfolgreichen Einschmeicheln oder Einschüchtern manchmal etwas zu abrupt.

Ihr bekommt allerdings je nach Aktion unterschiedlich viel Erfahrungspunkte sowie Punkte in den Bereichen „Vorbildlich“ bzw. „Skrupellos“ gutgeschrieben. In Mass Effect gibt es nicht eine Moralleiste für Gut und Böse, sondern gleich zwei. So könnt ihr über eine menschenfreundliche Antwort an Vorbildcharakter gewinnen, aber eine Minute später über die Rechtfertigung von Selbstjustiz tyrannische Facetten bekommen. Sehr schön ist, dass das Feedback eurer Partymitglieder die Moral des Volkes berücksichtigt. Sprich: Für einen Kroganer ist es gerechtfertigt, einen elenden Verräter sofort zu töten – tut ihr es nicht, verspottet er euch als verweichlichten Menschen.