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Too Human (Rollenspiel) – Too Human

Tolkien hatte Massenschlachten inszeniert, als das Kino noch in den Kinderschuhen steckte. Denn wer sich in den Zeilen eines packenden Romans verliert, kennt das Gefühl: Ein gut geschriebenes Buch braucht nur wenige Zeilen, und im Handumdrehen blühen unscheinbare Buchstaben zu einer fantasiereichen Welt auf. Während unsere Sinne bloßen Text aufnehmen, entstehen wie von selbst steinerne Burgen, gewaltige Kriege und faszinierende Charaktere. Ja, Too Human könnte wie ein gutes Buch sein…

© Silicon Knights / Microsoft

Der Preis für den Ego-Trip: Ausgelebten Erkundungstrieb strafen die Entwickler mit tödlicher Langeweile. Denn Erkundung findet fast ausschließlich im Cyberspace statt. In den gewöhnlichen Abschnitten sind kleine Ecken, in denen sich eine Hand voll Gegenstände versteckt, noch das höchste der Gefühle. Im Cyberspace findet Baldur hingegen etliche starke Waffen, Rüstungsteile und Runen – wobei der Begriff Cyberspace mit Vorsicht zu genießen ist. Denn so interessant die erzählerische Einbettung des künstlichen Abbilds einer Erde, wie sie vor dem Aufkommen einer allgegenwärtigen Eisschicht war, auch sein mag, so belanglos ist ihre Umsetzung als lebloses Gebirge, in dem Baldur nur in einer Hand voll Filmszenen auf Einwohner trifft: Das

mysteriöse Volk der weissagenden Nornen bewohnt diese Welt, in der sich das bevor stehende Unheil ebenso ausbreitet 

Der Cyberspace: Optisch stellenweise wunderschön – spielerisch meist belanglos.

wie in Baldurs Wirklichkeit…

Leere Bühnenbilder

Und wieder vergessen die Kanadier, ihr stellenweise brillantes Bühnenbild inhaltlich auszufüllen. Da brechen gleißende Sonnenstrahlen durch ein im Wind wiegendes Meer blutroter Baumkronen, da wird Baldurs Sicht vom satten Grün eines dichten Waldes verdeckt, in den sich kaum ein Lichtstrahl verirrt – und  nichts geschieht! Eine geschlagene halbe Stunde könnt ihr euch im Cyberspace buchstäblich verirren, sobald ihr gegen Ende des Spiels die Schlüssel zu allen Türen erhalten habt – doch ihr trefft weder Freund noch Feind noch bekommt ihr sonst irgendetwas zu tun. Tatsächlich müsst ihr den virtuellen Raum nicht einmal ausführlich erkunden. Hin und wieder lassen sich verschlossene Türen in der Realität zwar nur öffnen, wenn Baldur den Cyberspace betritt, um dort ein paralleles Tor aufzustoßen. Doch zum Einen verkommen diese ohnehin halbgaren „Rätsel“ nach dem ersten Level zum reinen Gehe-in-den-Cyberspace-und-drücke-einen-Knopf und zum Anderen dient der virtuelle Raum vor allem als Sammelstelle für neue Gegenstände.

Wer seine Vorstellung bemüht, entdeckt in der anfänglich harmonischen Welt immerhin die Anfänge von Ragnarök: Ein Cyberspace, in dem sich gigantische Wurzeln quer über den Himmel erstrecken, in dem Bruchstücke des Bodens herausgerissen in der Luft schweben und auseinander fallen und in dem glutrote Felsen scheinbar den Anfang des Krieges vorhersagen, ist eine bildgewaltige Kulisse, in der ihr eurer Fantasie freien Lauf lassen dürft. Gleichzeitig wirkt er aber wie die Momentaufnahme eines großen Einfalls, der nie zu Ende gedacht wurde.

Im Handumdrehen ein Gott

Wer Action sucht und auf die langen Laufwege der virtuellen Erkundung keine Lust hat, findet zum Glück eine kurzweilige Alternative: den kooperativen Mehrspieler-Kloppmist. Hier geht es einzig und allein darum, sich zum Verbessern von Baldurs Fähigkeiten und dem Sammeln weiterer Ausrüstung ins Abenteuer zu stürzen – Too Human erlaubt leider nicht das Fortführen der Handlung für zumindest einen der Spieler, wie es in anderen Titeln längst möglich ist. Ihr beginnt stets nur eine Partie in einem vom Gastgeber gewählten Abschnitt und gelangt anschließend zurück ins Hauptquartier, von wo aus ihr übrigens jederzeit die Kampagne fortsetzen oder einen bereits abgeschlossenen Level noch einmal absolvieren dürft. Abgesehen davon klingt das von Silicon Knights im Vorfeld angepriesene Zusammenspiel der beiden kooperativen Partner nach mehr als es letztendlich geworden ist. Schließlich ist das zuvor beschriebene, kurze Aufwerten einer bestimmten Fähigkeit schon alles, was Too Human in Sachen Mehrspieler-Umfang

Der Fähigkeiten-Dreizack: Jede Charakterklasse bietet drei unterschiedliche Entwicklungswege.

auszeichnet. Natürlich kracht es zufrieden stellend, wenn man sich zu zweit unter die Horden der Robotergegner mischt – das ist allerdings das Mindeste, was ein auf Action getrimmtes Abenteuer leisten muss. Besonders praktisch ist die nur online verfügbare Spielweise natürlich für den schwächeren der zwei Spieler. Denn weil sich die Gegner stets auf der Stufe des stärksten Teilnehmers befinden und nach ihrem Ableben entsprechend viele Erfahrungspunkte wert sind, wird aus einem Level 4-Krieger schnell ein Level 12-Gott.

Im Gegensatz zu anderen Action-Rollenspielen fällt eine echte Identifizierung mit dem gewählten Charakter allerdings schwer. Denn obwohl ihr eurem Baldur eine von fünf Charakterklassen zuweist (Nahkämpfer, Fernkämpfer, Heiler, Verteidiger oder von jedem etwas), habt ihr z.B. anders als in Mass Effect keinen Einfluss auf sein Äußeres. Auch die für jede Klasse mögliche Entwicklung der Fähigkeiten verläuft auf einer der festen Bahnen eines Dreizacks. Im Gegenzug dürft ihr eure auf die Fähigkeiten verteilten Erfahrungspunkte gegen ein erträgliches Entgelt jederzeit zurücknehmen und neu verteilen, und ihr wählt zu Beginn, ob sich euer Alter Ego kybernetisch verändern oder den menschlichen Weg gehen soll. Erzählerisch hat dies leider keine Auswirkungen, spielerisch ändern sich immerhin wenige grundlegende Fähigkeiten im Kampf. Spätestens hier wird deutlich: Silicon Knights will mit einem leicht zugänglichen Mittelweg sowohl Actionfans als auch Rollenspieler zufrieden stellen. Vielleicht ist es ja gerade dieser Kompromiss, wegen dem Too Human irgendwo zwischen Epos und Groschenroman pendelt.