Parieren geht über Studieren
Sobald der Feind genug eingesteckt hat, bekommt seine Lebensleiste eine weiße Umrandung und lässt sich durch einen aufgeladenen oder einen Fabel-Angriff nun vollständig aus der Fassung bringen, sodass er für kurze Zeit verwundbar wird und ihr ihm einen extrem wirkungsvollen Treffer verpassen könnt. Dabei gilt: Parieren lädt diese Leiste deutlich schneller auf als das reine Blocken oder Attackieren und weil größere Gegner sich ab und an in eine rote Aura hüllen und dann zu einem Wut-Angriff ansetzen, der sich ohnehin nur parieren lässt, ist Timing gefragt. Obwohl Lies of P mit seiner düsteren Atmosphäre und der gotischen Architektur nach Bloodborne schreit, erinnert das Kampfsystem mit seinem Fokus auf punktgenaue Paraden also deutlich stärker an Sekiro oder Thymesia.
Die erste Stunde von Lies of P hat mich spielerisch überraschenderweise zunächst ziemlich ernüchtert zurückgelassen. Ich kam mir anfangs nicht vor wie der junge, sportliche Pinocchio, sondern eher wie der gebrechliche Geppetto, der sein Großschwert mit Müh und Not durch die Gegend schleift. Eine mickrige Ausweichrolle ließ mich genauso viele Treffer einstecken wie die mühseligen Versuche des Parierens. Beim ersten Bosskampf angekommen wurde ich langsam warm mit dem Kampfsystem: Statt am Hintern meines Gegners zu kleben und gelegentlichen Attacken nach hinten mit einem Purzelbaum zu entgehen, starrte ich dem Parademeister tief in die rotglühenden Roboteraugen und fing an, seine schweren Schläge präzise zu parieren.
Spätestens bei dem Boss danach hat es dann endgültig Klick gemacht und das befriedigende „Katsching“, wenn der Angriff meines Gegners genau im richtigen Moment auf meine Klinge trifft, und das mir schon in Sekiro in den Ohren geschmeichelt hat, wird auch in Lies of P nie langweilig. Zwar gibt es die ein oder andere Ausnahme und ihr solltet die Ausweichtaste natürlich nicht einstauben lassen, aber ein Großteil der Bosskämpfe ist eindeutig darauf ausgelegt, dass ihr die verschiedenen Angriffsmuster lernt und dann im richtigen Zeitpunkt euer eigenes Schwert zum Parieren hochhebt. Bei Standardgegnern führt der perfekte Block derweil nicht nur irgendwann zur Stagger-Leiste, sondern zerstört auch die Waffen des Gegenübers, wodurch aus einem gefährlichem Kerzenständer nur noch ein mickriges Eisenrohr wird.
Klopf auf Holz, Puppe!
Entsprechend sind die Bosskämpfe in Lies of P vor allem eins: Richtig schön fordernd. Komplexe Angriffsmuster, lange Kombos und eine Mischung aus schnellen und verzögerten Attacken haben mich regelmäßig ziemlich auf Trab gehalten und ein paar schmerzhafte Niederlagen eingebracht, bis ich anfing, ein Gefühl für das jeweilige Timing zu bekommen. Wenn dann noch eine zweite Phase samt weiterer Lebensleiste auf dem Programm steht, wird die Zahl der Bildschirmtode schnell zweistellig und das Erfolgserlebnis beim etwaigen Triumph umso größer. Auch wenn das Lernen einige Zeit in Anspruch nehmen kann, sind die meisten Angriffe gut lesbar und verlangen keine übermenschlichen Reaktionen. Anders sieht es da schon bei den aufgeladenen Attacken aus, die nötig sind, um Gegner bei gefüllter Stagger-Leiste ins Wanken zu bringen. Weil die Bosse keine langen Atempausen einlegen und einige schnelle Manöver draufhaben, die mich spielend leicht unterbrechen, sind die Zeitfenster für einen aufgeladenen Angriff deutlich kleiner und seltener.
Weil sich die Entwickler dem Anspruch ihrer Bosskämpfe offenbar auch bewusst sind, bietet Lies of P sehr kurze und vor allem gegnerarme Wege vom Checkpoint zur Arena. Wenn es überhaupt Puppen gibt, die zwischen euch und dem nächsten Versuch stehen, könnt ihr an diesen problemlos vorbeilaufen. Ebenfalls praktisch: Genau wie bei Dark Souls verliert ihr beim Ableben zwar eure gesammelten Seelen, die hier Ergo heißen, und könnt diese am Ort eures Todes einmalig wieder einsammeln. Sterbt ihr allerdings bei einem Bosskampf, wartet das Ergo vor dem Eingang auf euch und nicht im Bossraum. So müsst ihr euch im Kampf nicht darauf konzentrieren, euer verlorenes Gut wieder einzusacken und könntet euch außerdem jederzeit dazu entscheiden, euch doch erst anderen Aufgaben zu widmen, ohne auf euer Ergo verzichten zu müssen.
Darüber hinaus steht vor jedem Bosskampf eine blaue Schale bereit, wo ihr im Austausch gegen eine Ressource namens Sternfragment ein Gespenst beschwören könnt, dass euch dann gegen den jeweiligen Endgegner zur Seite steht. Der gerufene NPC ist eine gute Ablenkung, wodurch ihr zwischendurch Zeit zum Heilen habt und die Feindesflanke attackieren könnt: Eine gute Möglichkeit, sich das Leben leichter zu machen, die gleichzeitig den einstellbaren Schwierigkeitsgrad ersetzt, der in Lies of P, wie bei den meisten anderen Genre-Vertretern auch, nicht vorhanden ist. Doch die aufgeteilte Aggro hat auch einen Nachteil: Angriffe lassen sich nämlich merklich schwerer oder gar nicht parieren, wenn sie nicht auf euch, sondern auf das Gespenst abzielen. So füllt sich die Stagger-Leiste bedeutend langsamer, was auch den effektiven Eingeweide-Angriff hinauszögert.
Die Riege an Bossen weiß übrigens nicht nur spielerisch, sondern auch optisch zu begeistern: Genau wie bei den normalen Gegnern handelt es sich bei den übergroßen Hindernissen entweder um Puppen, Schleim-Tentakel-Zombies oder später auch mal gerne um eine Mischung aus beidem – einige menschliche Widersacher stellen die Ausnahme dar und fallen häufig der zu leicht ausnutzbaren Backstab-Mechanik zum Opfer. Trotz ästhetisch einheitlicher Identität schafft man es dabei für abwechslungsreiche Designs zu sorgen, bei denen ein Schlauch-Transformer, der sich in einen tödlichen Ventilator verwandeln kann, genauso spannend aussieht wie ein gedopter Profi-Wrestler oder eine mit Zähnen und Klauen ausgestattete Ausgeburt der Hölle.
Btw das Spiel ist gerade im Neowiz Sale auf Steam
Das ist ein guter Punkt. Hatte lange "Angst" vor den Soulslikes und bin erst durch Elden Ring ans Genre gekommen. Jetzt habe ich das Meiste von FS nachgeholt und muss im Rückblick sagen, dass stark übertrieben wird, was die Schwierigkeit angeht. Nämlich unter anderem deshalb: Das schöne an den Spielen ist, dass man sich den Schwierigkeitsgrad quasi selbst aussuchen kann. Bei keinem Titel stimmt das so sehr wie bei Elden Ring, wo man vielen Challenges ja sogar räumlich aus dem Weg gehen kann. Aber ob man quasi "overleveld" oder Summons beschwört, ändert den Schwierigkeitsgrad gewaltig. Ich hab zwar nie gegrinded nur um aufzuleveln, aber ich nehme schon gerne alles mit, was mit das Spiel an Hilfe anbietet (und kein Glitch ist). Und da gibt es bei Sekiro deutlich weniger bis quasi gar nichts.
Berechtigte Kritik Amin einem angemessenen Ton vorgetragen, da sind wir uns sicherlich einig, ist immer willkommen. Dieser Tage ist es aber allgemein so, dass besonders negatives Feedback, meist alles andere als angemessen vorgetragen, sehr viel Raum einnimmt. Und für jedes schlechte Feedback braucht es 5 x positives, zum Ausgleich. Dieser allgemeine Trend ist auch an 4P nicht vorbei gegangen. Wo es viel berechtigte Kritik gab und gibt aber auch viel, übermäßig viel, der anderen Seite. Daher nehme ich mir lieber die Zeit für positives Feedback. Das kommt in meiner Wahrnehmung nämlich häufig zu kurz, kann, wenn es authentisch ist, einiges bewegen und für mein persönliches Wohlbefinden ist es auch besser wenn ich Zeit und Energie in Dinge stecke, die ich positiv finde als die, die mich aufregen.
Genau deshalb frag ich mich ja auch seit Jahren, ob ich mich an Sekiro trauen soll (yea, Kreis geschlossen!)