Soulslikes gibt es mittlerweile wie Sand am Meer, doch Lies of P stach vor seinem Release dank der Pinocchio-Vorlage nicht nur mit seiner langen Nase, sondern auch mit atmosphärischen Bloodborne-Anleihen aus der Masse hervor. Weil gerade in diesem überschwemmten Genre die Qualität enorm schwankt und viele mögliche Fallstricke zwischen ambitionierten Ideen und einem gelungenen Ergebnis liegen, muss sich jeder Vertreter einigen Fragen stellen: Wie fühlt sich das Kampfsystem an? Was für Bosskämpfe erwarten den Spieler? Wie steht es um den Schwierigkeitsgrad? Und vor allem: Wie grenzt man sich von den viel gepriesenen Vorlagen ab? Der südkoreanische Entwickler und Publisher Neowiz hat sich mit Lies of P alle Mühe gegeben, Antworten zu liefern und unser Test klärt auf, ob man beim Marketing im Vorfeld die Wahrheit erzählt oder munter gelogen hat.
Um den ansteigenden Herausforderungen gewachsen zu bleiben, muss Titelheld Pinocchio natürlich seine Stahlmuskeln aufpeppen. Das geschieht vor allem über ein klassisches Levelsystem, bei dem ihr von besiegten Gegnern Erfahrungspunkte – das erwähnte Ergo – erhaltet, die ihr dann in den Stufenaufstieg investieren könnt. Zur Auswahl stehen dabei wie immer eine Handvoll kryptische Begriffe, hinter denen sich letztendlich bekannte Kategorien wie Lebenspunkte, Ausdauer, verschiedene physische Angriffswerte oder Lastkapazität verbergen. Wer jeden Gegner einmal besiegt, darf sich über ein regelmäßiges Progressionsgefühl freuen, muss aber auch abwägen: Ergo dient nämlich gleichzeitig als Währung, mit der sich hilfreiche Gegenstände wie neue Waffen oder Wurfgeschosse erstehen lassen.
Untypisch für das Genre ist derweil der Talentbaum, bei dem ihr mit einer raren Ressource namens Quarz Stück für Stück neue Boni und Fähigkeiten freischaltet. Jeder eingesetzte Edelstein gewährt Pinocchio einen Vorteil, mit dem ihr, abhängig von eurer Wahl, beispielsweise die Anzahl der Pulszellen erhöht, eine weitere Ausweichrolle ausführt oder die Stagger-Leiste des Gegners schneller füllt. Da Quarz in Krat eine wahre Seltenheit ist, fühlt sich jedes Upgrade auch wirklich bedeutungsvoll an, obwohl die im Talentbaum zu findenden Boni eindeutig unausgeglichen sind. Die verstärkte Heilung der Pulszellen ist nun einmal viel nützlicher als die Möglichkeit, einen Feuerkanister mehr zu schmeißen. So musste ich nur selten abwägen, wie ich das Quarz investiere.
Damit ihr den Talentbaum möglichst weit ausfüllen könnt, lohnt sich nicht nur das Erkunden, sondern auch das Besiegen von stattlichen Minibossen, die das Repertoire an Standardgegnern beträchtlich erweitern und angesichts der deftigen Spielzeit von 40 – 50 Stunden für eine recht angenehme Feindesvielfalt sorgen. Auch in den letzten Gebieten servierte mir Lies of P ab und an noch ein paar neue Kreaturen. Nichtsdestotrotz ist mir das Kanonenfutter, bestehend aus taumelnden Puppen und sprintenden Zombies, ein bisschen zu häufig vor die Linse gelaufen. Die durchaus gelungene Abwechslung an Monstern macht sich übrigens auch mit einer Reihe an fiesen Statuseffekten bemerkbar: Die Klassiker wie Überhitzung und Verderbnis, die euch verbrennen oder vergiften und so für kontinuierlichen Schaden sorgen, werden dabei durch ein paar eigene Ideen erweitert.
Leidet ihr unter Elektroschock, erhaltet ihr beispielsweise mehr physischen Schaden, während Verfall dafür sorgt, dass eure Waffenhaltbarkeit rasant abnimmt. Brechen hingegen verringert temporär eure Heilung und Schock verlangsamt eure Ausdauerregeneration. Einige Statuseffekte sind natürlich schlimmer als andere, aber alle haben irgendwo ihre Daseinsberechtigung, um Lies of P noch herausfordernder und vielfältiger zu gestalten – alle, bis auf eine. Seht ihr einen Balken mit dem Wort „Störung“ auf eurem Bildschirm, solltet ihr schleunigst die Holzbeine in die Hand nehmen, denn sobald der voll ist, segnet ihr augenblicklich das Zeitliche. Instakill-Mechaniken sind selten eine gute Idee, zumal es zu viele Gegner gibt, die diesen Statuseffekt auslösen können. Das hätte man sich wirklich sparen können.
Schlaraffenland für Waffen-Narren
Auch wenn Lies of P viele Konventionen seiner Genre-Geschwister übernimmt, macht man ab und an glücklicherweise sein eigenes Ding, zum Beispiel bei den Waffen. Statt einfachen Schwertern, Hämmern und Speeren findet ihr neue Kampfwerkzeuge jedes Mal im Doppelpack, bestehend aus Griff und Klinge. Nun könnt ihr versäumte Bastelstunden aus eurer Kindheit nachholen, denn die Einzelteile lassen sich nach Lust und Laune kombinieren und beeinflussen natürlich das Endergebnis. Der Griff wirkt sich auf das Moveset aus, und mit welchen Werten eure Waffe wie stark skaliert. Die Klinge hingegen ist für die Reichweite zuständig und hat verschiedene Spezialangriffe im Gepäck. Beide Teile lassen sich derweil individuell und mit unterschiedlichen Ressourcen verbessern, wobei ihr beim Griff nur an der Skalierung schraubt.
Das Selbstzusammenbasteln der Waffe ist eine grandiose Idee, bringt frischen Wind ins Genre und sorgt dank großer Varianz für schier unendliche Möglichkeiten. Jede Kreation fühlt sich angenehm unterschiedlich an, bietet eigene Effekte und Movesets, und macht auch optisch einiges her: Mit einem Hammer, der aus Puppenarmen besteht, einem überdimensionalen Uhrzeiger oder einer Rohrzange lassen sich nicht nur bizarre, sondern auch wirklich spaßige Mordinstrumente zusammenschrauben. An die Trick-Weapons von Bloodborne mit ihren ausgefallenen Angriffsmustern kommt Lies of P zwar nicht ran, bringt aber trotzdem deutlich mehr als der Großteil der Konkurrenz auf den Tisch.